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Samstag, 29. Oktober 2011

Fukushima-Strahlung ist viel höher als behauptet (Spiegel.de)

Von Cinthia Briseño

Experten der IAEA begutachten die AKW-Ruine Fukushima: Radioaktives Desaster
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REUTERS
Experten der IAEA begutachten die AKW-Ruine Fukushima: Radioaktives Desaster
Die Folgen der Fukushima-Katastrophe sind weit schlimmer als bisher angenommen. Eine neue, detaillierte Studie schätzt, dass doppelt so viel Cäsium 137 in die Atmosphäre gelangt ist, wie die japanische Regierung berechnet hat. Experten müssen nun untersuchen, welche Gesundheitsrisiken bestehen.

Diese Frage erörtern Experten seit Beginn der atomaren Katastrophe, änderten und korrigierten ihre Schätzungen immer wieder. Jetzt liegt eine neue, umfassende Studie eines internationalen Forscherteams vor. Das Ergebnis ist düster: In Folge des nuklearen Desasters soll zweimal mehr des gefährlichen Cäsium 137 in die Atmosphäre entwichen sein, als von den japanischen Behörden bisher geschätzt. Das entspreche 40 Prozent jener Menge Cäsium 137, die bei derTschernobyl-Katastrophe freigesetzt worden war - und der zweitgrößten Freisetzung von Cäsium 137 in der Geschichte der Menschheit.Die Katastrophe passierte am 12. März 2011 um 15.36 Uhr. Im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi kommt es an Block 1 zu einer Explosion, die Detonation zerreißt das Dach und den oberen Teil des Reaktorgebäudes. Der erste Schwall radioaktiver Partikel wird in die Luft geschossen, eine radioaktive Wolke steigt auf - es ist nicht die letzte. In den Tagen darauf folgen drei weitere Explosionen. Jedes Mal werden Abermillionen radioaktiver Partikel in die Luft geschleudert. Im Keller der Reaktoren entstehen Lecks, radioaktive Wasserbrühe gelangt ins Meer und in den Boden. Doch wie viel Strahlenmaterial ist seit dem Desaster insgesamt in die Umwelt gelangt?
Welche Folgen das für die Bevölkerung haben könnte, lässt sich nur schwer abschätzen. Noch meiden Strahlenforscher konkrete Vorhersagen, wie hoch das zusätzliche Krebsrisiko für die Japaner sein könnte. Dafür müssen Experten noch herausfinden, wie hoch die tatsächliche Strahlenbelastung für die einzelnen Personen war und künftig sein wird. Dazu zählt nicht nur die Belastung durch radioaktive Partikel in der Luft - vor allem über kontaminierte Lebensmittel können die gefährlichen Cäsiumpartikel in den Körper gelangen und so zu einem erhöhten Krebsrisiko beitragen.
Auch heute, 25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl, konnte statistisch bisher nur beim Schilddrüsenkrebs bei Kindern ein klarer Zusammenhang nachgewiesen werden. In Japan hat die Regierung deshalb bereits mit einer Massen-Krebsvorsorge für Kinder begonnen.
Obgleich die Forscher um Andreas Stohl vom norwegischen Institut für Luftforschung sich für ihre neue Studie auf die Daten eines weltweiten Netzwerks von unabhängigen Messstellen stützten, ist die Analyse des riesigen Datenkonvoluts lediglich eine Annäherung an den tatsächlichen Gesamtwert freigesetzter Radioaktivität: Die Analyse beschränkt sich auf die Freiwerdung der radioaktiven Isotope Cäsium 137 und Xenon 133 in die Atmosphäre - die ins Meer gelangte Menge jedoch bleibt unberücksichtigt.

Großteil ging aufs Meer hinaus
Das Resultat gehört zu einer der detailliertesten Auswertungen, die es bisher zu dem Thema gibt: Zu Beginn der Katastrophe konnten Experten nur grobe Schätzungen abgeben. So veröffentlichte etwa das französische Amt für Nuklearsicherheit IRSN kurz nach dem Desaster erste Modellrechnungen, wonach im Verlauf von nur wenigen Tagen bereits ein Zehntel des Strahlenmaterials in der Umwelt gelandet sei, das 1986 in Tschernobyl freigesetzt wurde. Während dieInternationale Atomenergiebehörde IAEA die Rechnungen seinerzeit für übertrieben hielt, wird jetzt deutlich, dass die Schätzungen offenbar zu niedrig angesetzt worden sein könnten.
Allerdings ist die neue Veröffentlichung von der Expertengemeinde bisher nicht begutachtet worden. Das Fachmagazin "Atmospheric Chemistry and Physics", in dem die Studie jetzt erschienen ist, verfährt anders als die meisten Wissenschaftsjournale: Es stellt seine Veröffentlichungen zunächst online frei zur Verfügung. Sowohl Wissenschaftler als auch die ernannten Gutachter können acht Wochen lang über die Daten diskutieren und öffentlich ihre Kommentare abgeben. Erst wenn die Gutachter ihre abschließende Bewertung abgegeben haben, erscheint die Publikation in der gedruckten Ausgabe des Journals.
Bleibt abzuwarten, was andere Experten und insbesondere die japanischen Atomaufsichtsbehörde Nisa sowie die IAEA zu sagen haben. Bisher entzieht sich die Nisa einer offiziellen Stellungnahme, man hätte die veröffentlichten Daten noch nicht geprüft, heißt es seitens der Behörde. Die in Wien ansässige Atombehörde IAEA geht in ihrem Zwischenbericht vom Juni davon aus, dass insgesamt etwa 15 Peta-Becquerel Cäsium 137 in die Atmosphäre geschleudert wurden - die neue Studie kommt auf einen Wert von knapp 36 Peta-Becquerel. Allerdings stützen sich die Daten der IAEA maßgeblich auf Auswertungen der Nisa sowie des japanischen Umweltministeriums - und damit weitestgehend nur auf die Messgeräte vor Ort.
Diese Analysen, so die Autoren der Studie, berücksichtigten deshalb nicht jene Menge Radioaktivität, die über dem Meer deponiert wurde. Das Team um Stohl geht anhand seiner Simulationen und Berechnungen davon aus, dass nur 19 Prozent der gesamten Cäsium-137-Menge über dem Festland niedergegangen ist, während der Rest aufs Meer hinausgetragen wurde.

Opferentschädigung offen
Dass die Schätzungen der japanischen Behörden deutlich unter den jetzt veröffentlichten Werten liegen, verwundert angesichts des bisherigen Umgangs der Regierung mit der Atomkatastrophe nicht: Bereits im August war öffentlich geworden, dass die japanischen Atomaufsichtsbehörden die Bevölkerung über die Ausbreitung der atomaren Wolke im Unklaren gelassen hatte - und so möglicherweise Tausende von Menschen einem erhöhten Strahlenrisiko ausgesetzt hat.
Derzeit erarbeitet die IAEA ihren Abschlussbericht zur Katastrophe von Fukushima, er wird für Mitte November erwartet. Ganz gleich wie hoch die Ergebnisse über die Emissionswerte ausfallen werden - fest steht, dass die japanische Regierung vor einer Mammutaufgabe steht. Mehrere Millionen Kubikmeter Boden um das havarierte Kraftwerk sind radioaktiv kontaminiert und müssen entsorgt werden. Insbesondere Cäsium 137 gilt aufgrund seiner Eigenschaften und seiner langen Halbwertszeit von 30 Jahren als schädlich für die menschliche Gesundheit.
Einem Bericht in der japanischen Tageszeitung "Nikkei" zufolge will Tepco, die Betreiberfirma des Katastrophenmeilers, umgerechnet 8,55 Milliarden Euro Staatshilfe beantragen. Damit sollen die Insolvenz abgewendet und Entschädigungszahlungen an Opfer der Katastrophe geleistet werden.
Einem Tepco-Sprecher zufolge will das Unternehmen zusammen mit der Regierung einen Geschäftsplan vorstellen. Darin soll erklärt werden, wie Tepco den Entschädigungsforderungen von Anwohnern und Unternehmen infolge der Atomkatastrophe im März nachkommen will. Das Volumen der Forderungen wird auf 4,5 Billionen Yen geschätzt. Über die Höhe der erbetenen Staatshilfe machte das Unternehmen keine Angaben. Bisher haben die Opfer des Unglücks noch keine Zahlung aus dem im vergangenen Monat geschaffenen staatlichen Hilfstopf erhalten.

Mit Material von dpa

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