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Samstag, 15. September 2012

Japan zieht am Atom-Stecker (welt.de)


Regierung in Tokio will bis zum Jahr 2040 schrittweise aus der Kernenergie aussteigen 
                    Von Tobias Kaiser



Eineinhalb Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima ist die Mehrheit der Bevölkerung für den Ausstieg Der Bau neuer AKWs wird verboten; bestehende müssen nach 40 Jahren vom Netz...

Unter dem Eindruck der Nuklear-Katastrophe von Fukushima entscheidet sich Japan für den Komplettausstieg aus der Atomenergie. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist damit nach Deutschland die zweite große Industrienation, die sich von der Kernkraft zur zivilen Energieerzeugung verabschiedet. Die japanische Energiewende ist allerdings langfristiger als die deutsche: Die Regierung hat am Freitag beschlossen, dass bis spätestens im Jahr 2040 die meisten der gegenwärtig 50 Atomkraftwerke vom Netz genommen werden. Der Regierungsbeschluss verbietet den Bau neuer AKW im Land. Alle bestehenden Meiler sollen nach maximal 40 Jahren Betriebsdauer vom Netz gehen.


Eine so radikale Wende in der Energiepolitik schien in Japan lange undenkbar. Atomwirtschaft und Politik waren personell und finanziell eng verflochten, die gegenseitigen Abhängigkeiten ausgeprägt. Die Anti-Atomkraftbewegung war – anders als hierzulande – winzig. Das hat sich seit Fukushima geändert: Tausende haben in den vergangenen Monaten auf Großdemonstrationen die Abkehr von der Atomenergie gefordert, die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet einen Ausstieg aus der Kernenergie. Diesen Wandel konnte die Politik nicht mehr ignorieren.


Bereits in den Monaten nach der Katastrophe hatte sich Japan klammheimlich von der Atomenergie verabschiedet und sukzessive alle Reaktoren abgeschaltet: Im Mai wurde der letzte von ehemals 54 Reaktoren vom Netz genommen. Anders als etwa in Deutschland wurde aber der Ausstieg aus der Nuklearenergie bis Freitag nicht offiziell ausgerufen, sondern die mächtigen Provinzregierungen schufen vollendete Tatsachen.


Die japanischen Reaktoren werden regelmäßig für Routineuntersuchungen abgeschaltet. Normalerweise werden die Blöcke nach Überprüfung und anschließender Genehmigung der Provinzregierung wieder hochgefahren. Aber im ganzen Land hat die Angst vor der Atomkraft dafür gesorgt, dass seit dem 11. März 2011 zunächst kein Reaktor wieder hochgefahren wurde. Erst im Juli hatte die Regierung in Tokio erlaubt, zwei Kraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen, um Stromengpässe im Sommer zu vermeiden.


Diese Reaktoren soll nach dem Regierungsbeschluss jetzt wieder ans Netz gehen und bis zum Ende ihrer Betriebsdauer laufen. Der angekündigte Atomausstieg ist damit gleichzeitig auch ein Wiedereinstieg in die Kernenergie. Das sieht wohl auch Greenpeace so: Die Nichtregierungsorganisation kritisiert, dass ein vollständiger Atomausstieg bereits heute möglich wäre.


Für die Volkswirtschaft des Inselstaats hat die Kehrtwende der Regierung dramatische Auswirkungen. Denn in Japan lieferte die Kernenergie bis zur Nuklearkatastrophe von Fukushima knapp 30 Prozent der Elektrizität. Vor der Dreifach-Katastrophe vom vergangenen Frühjahr sollte dieser Anteil sogar auf 50 Prozent ausgebaut werden. Der Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet deshalb für das Land einen stärkeren Umbruch als die Energiewende hierzulande: Deutschland will zwar das letzte AKW bereits 2022 vom Netz nehmen. Aber hierzulande betrug der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung im vergangenen Jahr nur knapp 18 Prozent.


Ökonomen der Großbank Nomura haben ausgerechnet, dass der Verzicht auf Atomenergie die Strompreise um bis zu einem Fünftel steigen lassen könnte. Vor allem für die japanische Industrie wäre das eine große Belastung. Bereits in den vergangenen Monaten hatte die Abschaltung praktisch aller Atommeiler gravierende Folgen für die Handelsbilanz des Landes. Weil der Inselstaat die weggefallene Atomenergie vor allem durch Gas, Kohle und Öl ersetzt hat, sind die Einfuhren fossiler Brennstoffe stark gestiegen. Diese Mehreinfuhren haben dazu beigetragen, dass Japan im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit 1980 mehr Waren eingeführt hat als es in die Welt verkaufte – für die Japaner ein Schock.


Japan wird deshalb auf absehbare Zeit einer der größten Importeure fossiler Brennstoffe bleiben, selbst wenn der Anteil der erneuerbaren Energien in den kommenden Jahren wie geplant von zehn auf 30 Prozent verdreifacht wird. Deutschland hat der japanischen Regierung bereits Hilfe bei der Energiewende angeboten. Tatsächlich waren in den vergangenen Monaten bereits Delegationen aus Japan in Norddeutschland unterwegs, um Windkraftanlagen zu inspizieren und sich beraten zu lassen.

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